Helmut Kohl – Politik, Charakter und persönliche Grenzen

Wahlkampf 2013 – Ludwigshafen. Vor dem Stadttheater, dem „Pfalzbau“ eröffnet die CDU die politische Auseinandersetzung, in Anwesenheit von Angela Merkel. Sie spricht von einer eigens eingerichteten Bühne, vor der ein weiter Sicherheitskorridor sie vom Kontakt zum handverlesenen Publikum abschirmt. Alles CDU-Mitglieder, uniformiert mit lächerlichen orangenen Hüten. Ordner stellen den Abstand sicher, schon das sichtbare Polizeiaufgebot umfasst Hundertschaften. Auf dem Dach des Pfalzbaus lassen sich demonstrativ ein halbes Dutzend Scharfschützen sehen.

Drumherum gastiert mit noch etwas weiterem Abstand ein Kreis von Gegendemonstranten, auch eine Abordnung der gerade neu gegründeten Alternative für Deutschland ist gekommen, unter ihr der Autor dieser Zeilen.

Schon damals regte der starke Kontrast dieser Kanzlerinszenierung zum Verhalten eines Vorgängers im Amt des Bundeskanzlers zu Betrachtungen über den Lauf der Zeiten an. Helmut Kohl gehörte in Ludwigshafen lange Jahre zum Stadtbild. Er hat sich oft sehen lassen, ganz ohne Bewachung. Noch während seiner Kanzlerschaft habe ich ihn persönlich nebst Ehefrau auch auf einem Waldspaziergang auf dem Heidelberger Philosophenweg getroffen, ohne jedes noch so diskrete Polizeiaufgebot.

Sagen solche Kontraste auch etwas Politisches aus? Nun, sie lassen wohl jedenfalls etwas über die Selbstsicherheit der Person erkennen, auch manches über die allgemeine Veränderung der Sicherheitslage schon vor „2015“, vor allem aber viel über die selbstempfundene Distanz der jetzigen Politik gegenüber dem Volk.

In diesen Tagen sind unter dem Eindruck des Todes von Kohl zahllose Beiträge über ihn erschienen. Die Reaktionen aus seiner Partei, die ihn in den letzten Jahren seit der Parteispendenaffäre konsequent isoliert hatte, fielen erwartungsgemäß ebenso heuchlerisch wie bigott aus. Nach dem Ableben wurde er prompt wieder der vom Mantel der Geschichte umwehte „Kanzler der Einheit“, einer „der größten Deutschen“ und der Vorkämpfer für die EU. Jeder will nun wieder dabei sein, die Schlange am eilends ausgelegten Kondolenzbuch wird lang und länger. Das gilt auch für das Establishment in seinen allergrößten Teilen, lediglich von Links wurde weiterhin etwas Kritik laut, die TAZ fand auf dem Titelbild gar zu alter Geschmacklosigkeit zurück.

Viele haben aber auch daran erinnert, dass es eben Helmut Kohl war, der dem deutschen Volk viele der Dinge eingebrockt hat, die nun an seiner Existenz nagen. Dazu gehören allen voran die Verträge von Maastricht, die EU-Freizügigkeit und der Euro, um nur die sichtbarsten zu nennen. Aber auch die erste große Asyl- und Flüchtlingswelle während des Balkankriegs, die von der EU nach heute gewohntem Muster in Deutschland abgeladen wurde, fiel in die Zeit seiner Verantwortung. Innerhalb kürzester Zeit wich die Aufbruchstimmung nach den Jahren 1989/90 unter dem Eindruck dieser Dinge denn schon bald dem zuerst nur etwas dunklen Gefühl, es sei eine katastrophale Fehlentscheidung gefallen. Der „anschwellende Bocksgesang“ von Botho Strauß geriet dann im Februar 1993 zum ersten intellektuell lauten Ausdruck dieser Stimmung, ablesbar an der republikweiten Resonanz eines an sich für jedwede populäre Reichweite viel zu sperrigen Essays, der aber genau den Punkt getroffen hatte.

Schwer zu bestimmen ist, welcher Teil dieser Vorgänge mit den Machtmitteln eines Bundeskanzlers anders zu steuern gewesen wäre. Was das damals Anfang der 90er bereits massenhaft missbrauchte Asylrecht anging, so rafften sich die Altparteien unter Kohls Führung tatsächlich auf und schafften es in einem Aufbäumen des Selbsterhaltungstriebs faktisch ab. Das war es aber auch. Die nationale Dekonstruktion ging ansonsten rapide voran und Kohls „Realpolitik“ auf anderen Feldern steuerte exakt auf die jetzige Situation einer EU des permanenten Rechtsbruchs hin. Für die deutsche Republik fand er kein anderes Staatsziel als deren baldmöglichste Auflösung in einer Europäischen Union, und dies um einen hohen Preis. Hier müssen auch die Grenzen historischer Anerkennung gezogen werden, die zudem eng mit den Grenzen der Person zusammenfallen. Kohl managte die Vereinigung von BRD und DDR in kalkulierten Tabubrüchen, Telefonaten, leisen Verhandlungen und Treffen in privaten Rahmen. Das konnte er. Im Grunde waren das keine anderen Methoden als jene, mit denen er innenpolitisch agierte. Den neu vereinten Staat als sinnvolle Dauerlösung begreifen, das konnte und wollte er nicht. Wenn es überhaupt einen Kampf um die dafür nötige „geistig-moralische“ Erneuerung Deutschlands gegeben hat, dann hatte die CDU ihn schon in den 80ern verloren, und Kohl war auch nie derjenige, der für diese Auseinandersetzung geschaffen gewesen wäre.

So stand denn Helmut Kohl als Kanzler im Ergebnis letztlich für vieles, was heutzutage über alle Metapolitik hinaus eine parteipolitische Alternative für Deutschland so dringend nötig macht. Von den abstrusen Gender- und Homo-Experimenten einmal abgesehen, mit denen sich derzeit die selbsternannte politische Avantgarde umtreibt und die zu Kohls Zeiten noch gar nicht erfunden waren. Trotzdem zögert man intuitiv, eine scharfe Kritik an seiner Person zu formulieren. Das liegt ganz einfach daran, dass Kohls Denken trotz aller Fehlleistungen und Begrenzungen auf eine ganz grundsätzlich-romantische Weise dem Wohl des deutschen Volkes verpflichtet war. „Setzen wir Deutschland in Sattel, reiten wird es schon können“, so hat Bismarck einst die Reichsgründung kommentiert. Ähnlich stellte sich Kohl nach 1990 den weiteren Verlauf der Zeiten für das Volk vor. Abgabe von Souveränität sei nach der Vereinigung bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich, aber innerhalb der EU würde man auch eine deutsche Zukunft gestalten können.

Was Kohl aber an selbstverständlichem Patriotismus für diesen Gestaltungswillen voraussetzte, brach hinter ihm und unter ihm unaufhörlich zusammen und wurde innerhalb der bundesdeutschen Politkaste nicht ersetzt. Ob er das in der Dimension vollkommen erfasst hat, darf bezweifelt werden. In gewisser Weise wirkte er zuletzt aber, als sei ihm bewusst, aus der Zeit gefallen zu sein; und wie gemeldet wird, wollte er nach seinem Tod auch keinen bundesdeutschen Staatsakt für sich. Das kann als konsequent bezeichnet werden. Aus der Abgabe von deutscher Souveränität zu Überlebenszwecken haben seine Nachfolger jedenfalls in allen Altparteien einschließlich der CDU die gesellschaftliche Desintegration und die Deutschlandabschaffung als Selbstzweck werden lassen. So sieht das aus, im neuen Wahljahr 2017, wo diese Politik sicher auf noch umfassenderen Personenschutz setzen wird als 2013.

Über den Autor: Dr. Stefan Scheil studierte Philosophie, Soziologie und Mittelalterliche/Neuere Geschichte (Magister Artium (M.A.) und Dr. phil (magna cum laude)) und ist seit Mitte der 1990er Jahre freiberuflich als Wissenschaftlicher Autor, Journalist und Publizist tätig. Er ist AfD-Direktkandidat für die Bundestagswahl 2017 im Wahlkreis 209 (Kaiserslautern, Kusel, Donnersberg) und auf Platz 5 der Landesliste von Rheinland-Pfalz.